Shame – Drunk Tank Pink

In Reviews von Eric

Das Debütalbum von Shame blieb neben dem rauen Post-Punk-Sound vor allem wegen des süßen Schweinchen-Covers im Gedächtnis. Süß war aber gestern, von „Drunk Tank Pink“ blickt ein alter, trauriger Mann schwarzweiß ins Leere. Steht dieser als Sinnbild für Großbritannien angesichts von Brexit, konservativer Vorherrschaft und Corona-Pandemie? Zumindest ist das Leitthema des Zweitwerks des englischen Quintetts die Identitätskrise ihrer Generation, oder wie es Sänger Charlie Steen zusammenfasst: „No one knows what the fuck is going on.“

Zurückgeworfen auf sich selbst, ohne die Aufregung des Tourlebens, erkundete Steen allein in seinem pinken Zimmer und angetrieben von fiebrigen Träumen sein Inneres und fand viel Unsicherheit, Schlafprobleme und Angst vorm Alleinsein. Daraus entstanden introspektive, melancholische bis hoffnungslose Textzeilen, die in ihrem dunklen, existenzialistischen Grübeln denen von Ian Curtis ähneln: „All alone in my home, I still can’t get to sleep. I can’t get up, I won’t get up.“ oder „Mountains crumble and turn to dust, colour slips away just like it always does.“
Gitarrist Sean Coyle-Smith begab sich zur selben Zeit – übrigens noch Prä-Lockdown – ebenfalls in Klausur, um – angeödet von üblichen Gitarrenriffs – sein Instrument so weit es geht unrockig klingen zu lassen. Das gelingt zwar im Endeffekt nicht immer, dennoch klingen die Gitarrenparts sehr abwechslungsreich.

So entwickelten Beide unabhängig voneinander die Versatzstücke, die „Drunk Tank Pink“ zu einem deutlich komplexeren, detaillierteren und intensiveren Werk machen, als es der Erstling „Songs of Praise“ war. Shame sind laut und wild geblieben, aber zeigen nun mehr Facetten. Die Post-Punk-Grundierung von den Originalen (z.B. Gang Of Four) bis zu den 00er-Epigonen (z.B. Radio 4) behalten sie bei, gestalten sie jedoch überraschender aus: „Nigel Hitter“ paart den Groove von The Rapture mit der Exaltiertheit der Talking Heads, „Water In The Well“ die Schmissigkeit der B-52’s mit dem Blues der Rolling Stones. Bei „Snow Day“ treffen verzerrte Gitarren-Arpeggios auf jazzig-präzises Schlagwerk. Am deutlichsten aber zeigt „Station Wagon“ die Entwicklung der Band aus London-Brixton: In gut sechseinhalb Minuten lässt sie einen Strudel aus kanalisierten Gitarren, stoischem Bass, geisterhaftem Klavier und Stream-of-Consciousness-Lyrics entstehen, der sich schließlich in ein Crescendo ergießt.

Zusammen mit Idles und Fontaines D.C. bilden Shame das britisch-irische Triumvirat der conscious angry young men, die mehr zum Zustand ihrer Generation sagen können als alle Leitartikel-Schreiber*innen.

Tracklisting

  1. Alphabet
  2. Nigel Hitter
  3. Born in Luton
  4. March Day
  5. Water in the Well
  6. Snow Day
  7. Human, for a Minute
  8. Great Dog
  9. 6/1
  10. Harsh Degrees
  11. Station Wagon