Kettcar – Gute Laune ungerecht verteilt

In Reviews von Eric

Im Gegensatz zu ihren alten Grand-Hotel-Van-Cleef-Labelkollegen von Tomte haben Kettcar von Anfang der 00er-Jahre bis heute durchgehalten. Das liegt wahrscheinlich an den ausgedehnten Pausen, die sich die Hamburger gönnen, in denen man sich aus dem Weg gehen kann (aber nicht muss). Die Balance zwischen Distanz und Nähe sind der Schlüssel jeder Beziehung, das gilt gerade auch für Bands. In letzter Zeit hatte das Quintett offenbar wieder Bock (aufeinander), so dass sieben Jahre nach „Ich vs. Wir“ ein neues Album erscheint.

„Mittelmeer, Massengrab“ lauten die ersten Worte, die man von Sänger Marcus Wiebusch auf „Gute Laune ungerecht verteilt“ hört – und schon ist klar, dass Kettcar ihrem Ruf als moralisch integre, humanistische Deutsch-Indiepop-Bastion auch auf ihrer sechsten LP gerecht werden. Wiebuschs Texte, teils im Sprechgesang vorgetragen, sind eine Tour de Force durch die Schattenseiten der heutigen Welt – von Fluchtbewegungen („In der 6. Stunde“) über Alltagsrassismus („München“) zu Cancel Culture („Kanye in Bayreuth“). Kettcar entgehen aber der Falle, dabei zu plump oder erzieherisch zu wirken und lockern auch mit absurden Geschichten aus dem Supermarkt („Einkaufen in Zeiten des Krieges“) und melancholischem Soul Searching („Ein Brief…“) auf.

Nach einem Hördurchgang von „Gute Laune…“ fühlt man sich von den vielen Gedanken, Meinungen und Problembeschreibungen ziemlich erschlagen. Vor lauter textlicher Wirkmacht überhört man fast die musikalische Abwechslung, von treibendem Post-Punk und intimen Akustikmomenten bis zum Klauen bei „A Day In The Life“ von den Beatles. Dieses Album ist definitiv mehrere Hördurchgänge wert.

Tracklisting

  1. Auch für mich 6. Stunde
  2. München (feat. Chris Hell von FJORT)
  3. Doug & Florence
  4. Rügen
  5. Kanye in Bayreuth
  6. Blaue Lagune, 21:45 Uhr
  7. Wir betraten die Enterprise mit falschen Erwartungen
  8. Einkaufen in Zeiten des Krieges
  9. Was wir sehen wollten
  10. Bringt mich zu eurem Anführer
  11. Zurück
  12. Ein Brief meines 20-jährigen Ichs (Jedes Ideal ist ein Richter)